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Auszug aus "Sieben Tage, sieben Nächte"

von Uta Franck

Die dunklen Vögel der Ruhelosen

Es waren einmal ein junger Mann und eine schöne Frau, die lebten zusammen in einem ärmlichen Bauernhaus. Mal lachten sie miteinander, mal zankten sie sich. So gingen die Tage dahin. Ihr Dorf lag am Rande einer Ebene. Dahinter erstreckte sich ein Gebirge mit hohen Bergspitzen und tiefen Schluchten.

Auf den Bewohnern des Dorfes lastete ein böses Schicksal. Der Bärenkönig, der auf dem Berg mit dem dicksten Bauch seine Höhle hatte, forderte jedes Jahr, einen Menschen zu ihm hinaufzuschicken, der ihm zu Diensten sein musste. Da bisher keiner von dieser Reise zurückgekehrt war, hatten alle Angst, dass sie demnächst den Marsch auf den Berg würden antreten müssen.

Eines Tages fiel das Los der Dorfbewohner auf das junge Ehepaar. Der Mann wollte nicht das Opfer des Bären werden und befahl seiner Frau:

„Geh du zu dem Bärenkönig! Du kannst ihm besser dienen als ich. Außerdem kann nur ich die Tiere gut versorgen und den Acker anständig pflügen.“

Die Frau fügte sich dem Willen des Mannes, damit der Bär nicht das ganze Dorf verwüstete, wie er angedroht hatte. Sie tat Wasser und Brot in einen Beutel und zog Bergschuhe und eine warme Jacke an. Dann band sie eine Schaffelldecke für die Nacht auf ihren Rücken, denn sie wusste, die Bergbesteigung würde länger als einen Tag dauern.

Mit festem Schritt ging sie auf die Berge zu. Es war früh am Tag, die Sonne schien und die Amseln sangen noch ihr Morgenlied. Der Zorn auf ihren Mann trieb die Frau vorwärts.

Im Bergwald drangen die Sonnenstrahlen nicht bis auf den Boden. Dämmerlicht herrschte, obwohl es Tag war. Die Feuchtigkeit der Nacht stieg auf. Die Augen mussten sich erst einmal an die Düsternis gewöhnen. Zunächst war der Weg noch deutlich zu erkennen. Im unteren Teil des Gebirges wagten sich die Menschen trotz des Bären noch in den Wald.

Nach einer Weile setzte sich die Frau auf einen gefallenen Baumstamm, aß ein Stück Brot und trank von ihrem Wasser. Sie musste sich die Verpflegung gut einteilen. Die Wasserflasche wollte sie wieder füllen, wenn sie auf den Bergbach stieß. Sie wanderte den ganzen Tag bergauf. Abend fand sie eine verlassene Hütte am Weg, wickelte sich in ihre Schaffelldecke und sank in einen tiefen Schlaf.

In der Nacht aber drangen große, dunkle Vögel in die Holzhütte. Sie öffneten mit dem Schnabel die Tür, flogen über der schlafenden Frau hin und her und fingen leise an zu summen. Das Summen schwoll an, bis es den ganzen Raum füllte.

Dann setzten sich die Vögel zur Rechten und Linken der Frau und sagten drängend:

„Gehe nicht zum Bärenkönig! Kehre um!“

Und sie antwortete:

„Ich muss.“

Am nächsten Morgen glaubte die Frau, sie habe geträumt. Der Aufstieg am zweiten Tag war beschwerlicher. Die Füße schmerzten. Der Beutel drückte. Ihr Zorn wuchs. Der Weg war jetzt kaum noch zu erkennen. Im Unterholz war nur ein schmaler Pfad zu erspähen. Auf jeden Fall musste sie bergauf gehen. Von der Ebene aus hatte der Berg nicht so groß ausgesehen, wie er wirklich war.

Am Abend legte sie sich in eine Mulde hinter einem Stein. Hier war sie geschützt und konnte nicht abstürzen. Als sie schlief, erschienen wieder die schwarzen Vögel, flogen hin und her, setzten sich zu beiden Seiten der Frau und summten schauerlich:

„Gehe nicht zum Bärenkönig! Kehre um, kehre um!“

Und sie antwortete:

„Ich muss.“

Am dritten Tag fing es an zu schneien, obwohl es im Tal schon Frühling war. Hoch in den Bergen herrschte noch der Winter. Die Frau konnte den Weg nicht mehr erkennen. Sie kletterte immer weiter bergauf und hoffte, dass sie nicht plötzlich in einen Abgrund fallen würde. So lange sie sich bewegte, war ihr warm. Doch wenn sie eine Rast machte, kroch die Kälte bis unter die Haut.

„Heute muss ich wohl im Schnee übernachten“, seufzte sie. Die Frau fand einen geeigneten Schlafplatz und schlief sofort vor Erschöpfung ein. Wieder umflogen sie die ruhelosen Vögel, summten und schrien gellend:

„Gehe nicht zum Bärenkönig! Kehre um, kehre um, kehre um!“

Wieder antwortete sie:

„Ich muss.“

Am vierten Tag, ihr Zorn war immer noch größer geworden, erreichte sie die Bärenhöhle kurz unterhalb der Bergspitze. Ein paar Schritte vom Eingang entfernt stellte sie sich hin und wartete.

Nach einer Weile ertönte ein Brummen aus dem Bauch des Berges und der Bär kam heraus. Er fragte:

„Willst du mir zu Diensten sein?“

„Nein, ich will nicht!“, schrie ihm die Frau entgegen.

Der Bär schaute erstaunt in ihre Augen. Er entdeckte kein Zeichen von Angst in ihnen. Ihr fester Blick zeigte nichts als Entschlossenheit. Sie musterten sich wortlos.

Auf einmal war da ein gewaltiges Getöse und Donnern in der Luft. Die Bergspitze rutschte in die Höhle und zertrümmerte sie. Felsbrocken rollten den Berg hinunter bis in die Ebene.

Die Frau sank bewusstlos zu Boden. Die dunklen Vögel rauschten heran und bedeckten sie mit ihren Flügeln, damit sie durch herabfallende Steine nicht verletzt wurde. Als sie wieder erwachte, schaute sie in das schöne Antlitz eines Königs, der sagte zu ihr:

„Du hast dich geweigert, mir zu dienen. Dadurch hast du mich erlöst. Dort, wo die Höhle gewesen ist, werde ich ein Schloss bauen lassen und du sollst meine Königin sein.“

Die junge Frau betrachtete den König. Er war groß, schlank und hatte blaue Augen. Er sah viel stattlicher aus als ihr Ehemann zu Hause. Dann erblickte sie die Vögel, die sich um sie geschart hatten. Sie flüsterten ihr zu:

„Wir sind die Vögel der Ruhelosen, die Seelen der Menschen, die der Bärenkönig verschlungen hat.“

Da erfasste die Frau ein Grauen und sie rief:

„Ich will nicht deine Königin werden!“

Sie drehte sich um und rannte den Berg hinunter, aber sie wählte die Seite, die nicht zu ihrem Heimatdorf führte. Einer der Vögel forderte sie auf:

„Setze dich auf meinen Rücken!“

So wurde sie abwärts getragen. Die Vögel wechselten sich ab. Jeder trug sie, so lange die Kraft reichte.

In der Ebene auf der anderen Seite des Gebirges lag ein Land, das die Frau nicht kannte. Hier begann sie ein neues Leben.

 Und was ist aus dem zum Menschen gewandelten Bärenkönig geworden? Das weiß ich nicht, da müsst ihr schon selbst hinaufsteigen und nachschauen.

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