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Auszug aus "Elisabeth Levenstedt"

von Uta Franck

Im Park blühten Anemone und Scharbockskraut. Elisabeth schaute aus dem geöffneten Fenster und atmete die Frühlingsluft ein. Es war noch kühl. Sie sah sich in ihrem Hotelzimmer um. Ihre Koffer hatte sie gestern Abend nicht mehr ausgepackt, nur die Blusen und Röcke hingen schon im Schrank. Die Kulturtasche hatte sie nicht geöffnet. Auf dem Nachttisch lag eine angebrochene Packung Schlaftabletten.
Warum war sie gestern so plötzlich von zu Hause aufgebrochen? Fluchtartig hatte sie ihren Mann und ihre beiden Kinder verlassen. Wulf hatte im Garten gerade Tai Chi gemacht. Bei kaltem Wind stand er nackt vor dem Schuppen und betete die Sonne an. Meditationsmusik. Er ließ sein Om in das Weltall strömen. Die Kinder – Thomas ging in die vierte Klasse der Grundschule, und Barbara besuchte schon seit drei Jahren das Gymnasium – spielten vor dem Haus auf der Wohnstraße. Hier fuhren selten Autos, und sie brauchte sich keine Sorgen wegen des Verkehrs zu machen.
Ein Anruf! Dann war ein Anruf gekommen. Es ging um Wulf, ihren Mann, dem sie sich immer fügte, er dominierte in seiner bärtigen Art sie und die Kinder.
„Ihr Mann hat eine Geliebte“, sagte eine Frauenstimme. „Ich weiß es ganz genau, denn ich bin seine Freundin.“
Elisabeth ließ den Hörer fallen. Schlagartig fiel ihr ein, dass sie den Ton hasste, mit dem ihr Mann seinen Kindern etwas befahl. Wie hatte sie das bisher überhören können! Seine Konzentrationsübungen am Schuppen mit seinen verrenkten Armen und Beinen! Elisabeth lachte laut auf. Keiner durfte ihn stören. Alles wollte er vorzüglich machen. Bei seiner Arbeit war er der Gott in Weiß. Seine Kinder wagten nicht ihm zu widersprechen. Sie traute sich auch nicht mehr, ihm ihre wahre Meinung zu sagen. Er lächelte so mitleidig, wenn sie versuchte, sich ihm zu erklären. Sie hatte es sich angewöhnt, ihre Gedanken bei sich zu behalten und ein Eigenleben in ihrem Kopf zu führen, von dem er nichts ahnte.
Eine Geliebte hatte er. Wut stieg in ihr hoch. Sie hatte ihren Beruf aufgegeben, putzte täglich die Zimmer, kaufte ein und kochte das Mittagessen, und er vergnügte sich mit einer anderen Frau. Unerträglich!
Langsam und überlegt packte sie zwei Koffer, nahm Bargeld aus der Haushaltskasse und steckte ihr Sparbuch und ihre EC-Karte ein. Sie wollte weg.
Die Tür schloss sie nicht ab. Sie stellte die Koffer in ihren Kleinwagen, ohne dass sich die Kinder in ihrem Spiel stören ließen.
Dann startete sie ins Ungewisse.

Dr. Gisela Lermann Verlag, Mainz

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Elisabeth Levenstedt