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Auszug aus "Der Prinz im Schaffell"

von Uta Franck

Der verlorene Zorn

Es ist noch gar nicht so lange her, da gab es einmal einen König, der zeichnete sich durch einen gerechten Zorn aus. Wenn in seinem Land ein Dieb, hungrig wie er war, einem reichen Mann ein Brot gestohlen hatte, verurteilte ihn der König zu einer kleinen Strafe, zwinkerte mit den Augen und entließ den Bösewicht freundlich. Wenn aber derselbe Dieb einem armen Bauern, der eine Frau und sechs hungrige Mäuler zu versorgen hatte, ein Brot wegnahm, wurde er sehr zornig, schrie den Tunichtgut an, dass er zusammenzuckte. Mindestens drei Tage lang musste so ein Dieb im Kerker büßen. Alle Untertanen verstanden ihren König und fühlten sich gerecht behandelt. Sogar die Diebe mussten wohl oder übel einsehen, dass ihr König durch seinen Zorn für Recht und Ordnung sorgte. Des Königs Reich blühte und gedieh und alle waren zufrieden.

Der königliche Zorn wohnte in der königlichen Brust. Für gewöhnlich lag er im Dämmerschlaf. Hörte er jedoch von einer Missetat, blähte er sich auf und verlieh der Stimme des Königs Kraft und Stärke. 

Eines Tages geschah es, dass ein Müller vor den König treten musste. Er hatte einen Esel zu Tode geprügelt, weil dieser nicht weiter gehen wollte, störrisch wie Esel nun einmal sind. Der König regte sich entsetzlich auf. Er fing an zu brüllen, atmete tief und heftig. Sein gerechter Zorn verwandelte sich in einen blinden. Am liebsten hätte er den Müller eigenhändig erschlagen. Der König atmete so gewaltig, dass der Zorn aus seiner Brust entwich, durch den Thronsaal taumelte und durch das offene Fenster davonflog.

Ein paar Jahre lang schwebte der Zorn ziellos umher, dann ließ er sich auf einem Feld nieder und sickerte in die fruchtbare Erde. Der Bauer, dem der Acker gehörte, säte im kommenden Frühjahr Korn. Die Saat ging auf und der Zorn, der sich von einem blinden wieder in einen gerechten verwandelt hatte, gelangte durch die Wurzeln und die Stängel mitten hinein in die Kornähren, ließ sich im Winde schaukeln und vom Regen waschen.

In der Zwischenzeit war es mit dem König bergab gegangen. Seine Leute konnten sich nicht mehr auf ihn verlassen. Manchmal strafte er hart, manchmal strafte er weich, aber es war kein Zusammenhang mehr zwischen der Missetat und der Strafe zu erkennen. Die Diebe wurde immer gerissener und unverschämter, Räuberbanden bildeten sich und nahmen den Bürgern Hab und Gut. Niemand wurde mehr gerecht verurteilt. Die Äcker wurden schlecht bestellt, weil die Ernte ja doch gestohlen wurde und der Handel lag danieder, weil die Kaufleute auf ihren Reisen ausgeraubt wurden. Kurz gesagt, mit dem König und seinem Reich ging es mehr schlecht als recht.

Der milde König sah sehr wohl, dass es ernst um ihn stand. Er wollte seinen Zorn wiederhaben. Er schickte Reiter in alle vier Himmelsrichtungen seines Reiches und ließ sie suchen. Wie zu erwarten kamen sie ergebnislos nach Hause zurück. Woran hätten sie auch den Zorn in den Kornähren erkennen sollen?
Der milde König war immer noch ein guter König. Er grämte sich, dass er es nicht schaffte, für Gerechtigkeit zu sorgen. Seitdem er seinen Zorn verloren hatte, fehlte ihm das Gespür dafür, im richtigen Augenblick die richtige Entscheidung zu treffen. Er ließ alles so laufen, wie es kam und wurde darüber alt und grau. Er wurde nachlässig in seiner Kleidung, sein Rücken beugte sich vor Kummer, Sorgenfalten durchzogen sein Gesicht und hätte er nicht eine Krone getragen, niemand hätte ihn mehr als König erkannt.
„Ich muss mich wohl selbst auf den Weg machen“, seufzte er. „Wie sollen die Reiter auch meinen Zorn erkennen! Sie können höchstens ihren eigenen suchen.“
So packte der vor der Zeit gealterte König ein Bündel mit dem Nötigsten und verließ das Schloss. Der geduldige Mann wurde in jedem Gasthaus als letzter bedient, da er sich nie vordrängte. Er erhielt immer das schäbigste Nachtlager, da man ihn ohne Krone für unbedeutend hielt. Oft musste er die Rechnung vorab begleichen, weil ihm die Wirtsleute nicht zutrauten, dass er die Zeche bezahlen könne. Von den Räubern wurde er in Ruhe gelassen. Sie hielten ihn ebenfalls für mittellos.
Der König suchte tagaus, tagein. Doch sein Reich war groß. Viele Wege galt es abzuschreiten. Er hatte schon mehrere Schuhe durchgelaufen, als er erkannte, dass er es allein nicht schaffen würde, seinen Zorn zu finden. Er klagte einer Gastwirttochter sein Leid. Das schöne Mädchen hörte ihm aufmerksam zu und nahm ihn ernst.
„Ich weiß nicht, was du machen musst“, sagte sie. „Aber ich könnte dir zeigen, wo der Mann, der auf dem Sturmwind reitet, wohnt. Der kennt sich mit heimlichen Dingen aus.“
„Führe mich zu ihm!“, bat der König.
Und so geschah es. Mitten in einem riesigen Wald stand eine Hütte, aus deren Schornstein ragte eine lange Leiter. Jeden Morgen kletterte der Besitzer der Hütte die Leiter empor, schwang sich auf den Sturmwind und ritt durch die Welt. Diesen Mann fragte der König um Rat.
„Gut, dass du zu mir kommst“, sagte der Weise. „Ich kann dir tatsächlich helfen. Geh zurück zu deinem Schloss! Nicht weit entfernt von deinem Palast ist ein Kornfeld. Zwölf Kornpflanzen wachsen dort in einem Kreis. Pflücke sie, bringe sie zu dem Müller, den du beinahe erschlagen hättest. Er wird dir Mehl aus den Ähren mahlen. Dann lass die Gastwirttochter ein Brot daraus backen. Dieses Brot des gerechten Zorns musst du ganz allein essen. Dann ist der verlorene Zorn wieder dein.“
„Wie kann ich dir danken?“, fragte der König.
„Ich brauche keine Belohnung“, sprach der Mann, der auf dem Sturmwind ritt.
Er ließ den König nicht laufen, sondern setzte ihn und das Mädchen auf sein Windross und ehe sie sich versahen, waren sie daheim.
Der König suchte das Kornfeld ab. Endlich fand er die im Kreise stehenden Pflanzen, pflückte sie, ließ den Müller die Ähren mahlen und die Gastwirttochter ein Brot daraus backen. Er nahm ein Messer, schnitt eine Scheibe von dem Brot des gerechten Zornes und aß. Sein Rücken straffte sich. Bei der zweiten Scheibe glättete sich sein zerfurchtes Gesicht und als er den letzten Bissen gegessen hatte, war seine Brust wieder gefüllt mit Zorn und Lebenskraft.
Er sah sich in seinem Reich um und erkannte, dass es sehr viel für ihn zu tun gab. Doch vorher heiratete er die schöne Gastwirttochter und dann machten sich beide an die Arbeit zum Wohle ihrer Untertanen. Von Zeit zu Zeit kam der Sturmwindreiter und sorgte für Regen. Dann ließ er sich eine Zeitlang nicht mehr sehen und ließ die Sonne scheinen. Vor allen Dingen aber herrschte der König , der jetzt sehr glücklich war, wieder gerecht. Wie früher war er genau im richtigen Augenblick zornig, so dass er von allen Menschen geachtet und geliebt wurde.

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Der Prinz im Schaffell

Illustrationen: Claus Nothdurft, Kelkheim