von Uta Franck
Sie lag auf dem Sofa in der Wohnstube und räkelte sich. Sonnabendnachmittag. Endlich konnte sie sich recken und strecken. Die Arbeit der Woche lag hinter ihr und sie hatte Zeit sich auszuruhen. Die Augenlider fielen ihr zu, sie schlief für eine Viertelstunde ein.
Plötzlich schreckte sie auf. Ihr wurde bewusst, dass der Nachmittag und Abend noch vor ihr lagen. Sie fing an, auf das Verrinnen der Zeit zu achten. Langweilig, allein zu faulenzen, dachte sie. In Gesellschaft wäre der Nachmittag vergnüglicher. Doch im selben Augenblick schoss es ihr durch den Kopf, du wolltest bisher immer allein sein, du hattest Angst vor einem langweiligen Mann, nichts ist für dich grauenhafter als ein Ehemann, der immer dieselben Redewendungen gebraucht, der in Stammtischmanier über Politiker herzieht oder der einzig und allein über technische Probleme von irgendwelchen teuren Autos redet. Nein, das bitte nicht!
Sünje war jetzt hellwach. Lieber wollte sie allein im Wohnzimmer vor sich hindösen und die Minuten zählen, als sich mit einem Ehemann plagen, den sie nie wieder loswerden würde. Ihr fiel das Märchen von der Prinzessin ein, die nicht gelangweilt werden wollte, das sie kürzlich gelesen hatte. Die Prinzessin hatte immer gleich den ersten besten Mann geheiratet, der ihr imponierte, aber ihr Vater, der König, hatte sie auch unter Druck gesetzt. Er hatte ihr befohlen, sich einen Mann zu suchen, weil er alt und müde und des Regierens überdrüssig war. Viermal hatte sie den Falschen gewählt. Der König jagte alle Ehemänner auf ihre Bitte hin wieder davon. Wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er die Männer seiner Tochter auch nicht leiden konnte. Immerhin hatte die Prinzessin dabei gelernt, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen musste. Ein Ehemann war keine Lösung. Sie wollte selbst Königin werden und regieren.
„Der König dachte wirklich gründlich nach. Dann sprach er: ‚Meine Tochter, ich will es mit dir als Herrscherin versuchen.’ Da stieg der König von seinem Thron und machte der Prinzessin Platz.“
Sünje war mit diesem Schluss einverstanden. Regieren war eine anspruchsvolle Tätigkeit. Um zufrieden zu sein, war es wichtig, einen Beruf auszuüben, der einen ausfüllte. Sie wollte nicht wie ihre Mutter enden, die immer erwartungsvoll am Küchenfenster gestanden hatte, wenn sie aus der Schule kam. Sofort hatte sie gefragt: „Wie war’s heute?“ und Sünje musste erzählen, was sich auf dem Pausenhof und im Klassenzimmer ereignet hatte. Sie hasste es, so ausgefragt zu werden.
Als sie älter wurde und manchmal erst um Mitternacht nach Hause kam, musste sie zuallererst ans Bett der Mutter eilen und Bericht erstatten.
Später erkannte Sünje, dass die Tage und Wochen ihrer Mutter eintönig gewesen waren, dass sie ein Leben aus zweiter Hand geführt hatte. Durch Ehemann und Kind verschaffte sie sich einen Zugang nach draußen. Sie selbst hatte zu selten Kontakt mit der Außenwelt.
Morgens sorgte sie für das Frühstück, für die Ordnung und die Sauberkeit des Hauses, kaufte ein und kochte das Mittagessen. Ein Tag glich dem anderen. Ihre Mutter hatte keine Freundin, die sie manchmal besuchen kam. Warum lebte sie so auf Mann und Kind beschränkt? Sünje bedauerte, dass sie es versäumt hatte, ihre Mutter danach zu fragen. Manchmal hörte sie noch heute, wie die Mutter seufzte, wenn sie am späten Nachmittag den Tritt vor der Haustür feudelte und vor sich hinmurmelte:
„Nichts als Hausarbeit habe ich den ganzen Tag gehabt!“
Dann regte sich Widerstand in Sünje und sie dachte, du brauchst gar nicht pausenlos zu putzen. Etwas schmutziger dürfte es ruhig sein. Niemand erwartet eine solche Ordentlichkeit und Akkuratesse. Das ist dein eigener Anspruch. Du selbst forderst diese Sklavenarbeit von dir, du willst eine gute Hausfrau sein, dann musst du dich eben plagen.
Sünje sorgte in solchen Momenten dafür, dass sie aus der Reichweite ihrer Mutter kam. Wenn sie so stöhnte, forderte sie sie mit Sicherheit in den nächsten fünf Minuten auf, Brot und Fleisch einzukaufen oder im Garten zu arbeiten. Ihre Mutter wusste auch sie zu beschäftigen. Es gab immer irgendetwas zu tun.
Damals hatte sich Sünje geschworen, nicht so wie ihre Mutter zu werden. Und sie hatte sich bis zu dem heutigen Tag daran gehalten. Nach dem Abitur hatte sie eine Buchhändlerlehre gemacht. Sie arbeitete, verdiente Geld und war unabhängig. Außerdem hatte sie Freundinnen und Freunde.
Ein Ehemann und Kinder hätten bedeutet, sich wie die Mutter der Gefahr auszusetzen, unausgeglichen zu werden. Mit Erfolg hatte sie bisher vermieden zu heiraten. Sie war jetzt dreiunddreißig Jahre alt. Ihre Eltern waren vor ein paar Jahren kurz hintereinander gestorben. Sie hatte das kleine Backsteinhaus geerbt, in dem sie aufgewachsen war. Das Haus war gerade so groß, dass sie es auch allein bewohnen konnte.
Warum auf einmal diese Anwandlung, warum dieses Gefühl des Alleinseins? Warum glaubte sie plötzlich, dass sie sich zu zweit besser von dem Stress der Woche erholen könnte? Das war doch wohl ein Irrtum! Allein konnte sie so lange auf dem Sofa liegen, wie sie wollte, kein Partner signalisierte ihr, dass er etwas zu essen haben wollte, aber es brüht mir auch niemand eine Tasse Kaffee auf und stellt sie vor mir auf den Couchtisch. Dafür kann ich jetzt stundenlang Zeitung lesen. Danach hole ich mir ein Buch und wenn ich überhaupt nicht mehr lesen mag, dann stelle ich den Fernseher an.
Sünje hatte ihr Gleichgewicht wiedergefunden. Ihr Leben war in Ordnung. Sie wünschte sich kein anderes.
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