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Auszug aus "Kelkheimer Märchen und Sagen"

von Uta Franck
illustriert von Claus Nothdurft

Gefrorene Worte

Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hatten einander sehr gern. Zusammen mit ihren Kindern lebten sie in einem schönen Haus. Sie hatten ein gemütliches Wohnzimmer, in dem sich die Familie abends zusammenfand. Dann erzählte ein jeder von den Erlebnissen des Tages. So nahmen sie alle Anteil am Leben des anderen.
Viele Jahre gingen ins Land. Die Kinder wurden groß und verließen das Haus, um in einer anderen Stadt ihr Glück zu versuchen. Des Abends saßen nur noch der Mann und die Frau in der Stube. Ihre Gespräche wurden stockender. Der Mann wusste nicht so recht, was er seiner Frau erzählen sollte, und die Frau dachte, ich habe doch nichts erlebt, was sich zu berichten lohnt. Immer stiller wurden die Abende.
Die Frau, die tagtäglich ihre Hausarbeit verrichtete, sah jetzt ernst und mürrisch aus. Oft vergaß sie das Notwendigste. Manchmal fehlten die Kartoffeln, wenn sie eine Mahlzeit zubereiten wollte, oder der Mann suchte vergeblich nach einer Flasche Bier im Keller. Eines Tages vergaß die Frau, Kohlen für den Ofen zu besorgen, obwohl es Winter war. Draußen war es bitterkalt. Als sie abends beisammensaßen, schweigend wie immer in der letzten Zeit, wurden zuerst die Glieder klamm, dann fingen sie an zu zittern, die Zähne schlugen klappernd aufeinander.
„Ich friere“, wollte der Mann sagen. Doch aus seinem Mund fielen nur zwei große Eisstücke.

Kelkheimer Märchen und Sagen
Das Märchen vom heimatlosen Weihnachten

Es war einmal ein Weihnachten, das hatte kein Zuhause. Ziellos irrte es durch die Straßen. „Wenn ich doch bloß irgendwo hingehören würde“, seufzte das Weihnachten und stapfte durch den Schnee. Kalt und ungemütlich war es im Freien. „Wer wagt, gewinnt“, dachte das Weihnachten. „Ich werde jetzt einfach zu den Menschen gehen, an der Haustür läuten und fragen, ob sie mich gebrauchen können.“

Das Weihnachten klingelte an der Haustür eines großen Hauses, das von einem Garten umgeben war. Alle Fenster waren erleuchtet. Eine Frau öffnete. „Ich bin Weihnachten. Können Sie mich gebrauchen?“ – „An der Tür kaufe ich nichts“, sagte die Frau und knallte das Tor zu. „Das war ein Missverständnis“; dachte das Weihnachten. „Ich will mich ja nicht verkaufen, sondern verschenken. Das nächste Mal muss ich mich deutlicher ausdrücken.“

Wieder klingelte es. Wieder öffnete eine Frau. „Ich bin Weihnachten. Ich will mich dir schenken“, sagte es. „Dich nehme ich nicht einmal umsonst. Du bist ja eine einfache Fichte mit Äpfeln an den Zweigen. Wirf mal einen Blick in mein Wohnzimmer!“, sagte die Frau verächtlich. Da sah das Weihnachten eine wohlgewachsene Edeltanne mit kostbaren bunten Glaskugeln, die glänzten und glitzerten. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie mit mir belästigt habe“, murmelte das Weihnachten, schluckte und ging. 

„Soll ich es noch einmal versuchen?“, fragte es sich. „Es muss doch in dieser Stadt eine Familie, die mich gebrauchen kann.“

Beim dritten Mal öffnete ein Mann. „Ach du lieber Gott, was für ein altmodisches Weihnachten“, lachte er. „Tropfende Wachskerzen! Und wie gefährlich das ist! Schau nur, wir haben elektrische Kerzen die Fülle. Die lassen wir von November bis Februar brennen. Der Strom kostet fast gar nichts.“ – „Entschuldigen Sie, dass ich Sie gestört habe“, flüsterte das heimatlose Weihnachten und floh. 

„Ich werde es jetzt ein letztes Mal versuchen. Vielleicht kann ich die Menschen mit Musik herbeilocken.“ Das Weihnachten setzte sich in dem Flur eines Gasthofes ans Klavier und spielte „Süßer die Glocken nie klingen“. Da kamen alle Leute aus ihren Zimmern und sagten: „Das hört sich auf unserer CD viel schöner an“, denn das Weihnachten hatte sich vor Aufregung ein bisschen verspielt. 

Jetzt war es ganz mutlos. Es schleppte sich durch die Straßen und es hätte nicht viel gefehlt, es hätte geweint. Da sah es auf einmal ein kleines Mädchen in einer Hausecke kauern. Das fror jämmerlich. Es versuchte, sein kurzes Mäntelchen über die zitternden Knie zu ziehen. 

„Warum sitzt du hier auf der Straße?“, fragte das Weihnachten. „Ach“, antwortete das Mädchen, das Katharina hieß, „meine Eltern haben sich gestritten, weil sie kein Geld für einen Weihnachtsbaum haben. Da bin ich weggelaufen.“ – „Komm mit mir!“, sagte das Weihnachten. „Ich bringe dich nach Hause. Dein Vater und deine Mutter werden schon in Sorge um dich sein.“

Das altmodische Weihnachten nahm das Mädchen bei der Hand, und Katharina zeigte den Weg zu ihrem Wohnwagen am Stadtrand. „Jetzt pass einmal auf!“, rief das Weihnachten und blies seine Backen auf. Plötzlich weitete sich der Wohnwagen zu einem richtigen Haus mit regensicherem Dach, schützenden Wänden und mehreren Zimmern. Verwundert öffneten der Vater und die Mutter die Haustür. Da sahen sie ihre kleine Tochter und schlossen sie in die Arme. Das Weihnachten schlüpfte wortlos an ihnen vorbei. Im Wohnzimmer zauberte es einen Tannenbaum neben den Schrank, der war mit Strohsternen übersät. Lametta funkelte und blitzte an den Zweigen. Unter dem Baum aber lag für den Vater eine neue Hose, für die Mutter ein Kleid und für Katharina warme Stiefel. 

„Merkt ihr was?“, fragte die Mutter. „Aus der Küche kommt so ein köstlicher Duft.“ Im Backofen brutzelte eine Weihnachtsgans. Sie war schon fertig. Die Mutter und Katharina deckten den Tisch, während das Weihnachten „Vom Himmel hoch da komm ich her“ auf dem Klavier spielte. Es machte keinen einzigen Fehler. 

Das wurde ein Festschmaus! Und das Weihnachten, das glücklich war, weil es nun ein Zuhause hatte, aß so viel, dass ihm beinahe der Bauch geplatzt wäre.


Verlag Blei & Guba, Hofheim 1997, ISBN 3-00-002170-1

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Weihnachten

Illustrationen: Claus Nothdurft, Kelkheim